Magdeburg – EINE STADT FÜR ALLE(?)
Diese Frage stellten sich die Teilnehmenden in zwei durch die Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt e.V. (AGSA) organisierten Online-Foren im Rahmen der kürzlich zu Ende gegangenen gleichnamigen Magdeburger Aktionswochen.
Sind wir wirklich EINE STADT FÜR ALLE?
Die Realität sieht in vielen Bereichen anders aus. Trotz der Zunahme der Zuwanderung, bleiben zu wenige Menschen hier. Die nach Königsteiner Schlüssel zugewiesenen Flüchtlinge entscheiden sich nach dem abgeschlossen Asylverfahren immer noch viel zu häufig für andere Bundesländer mit attraktiverem Arbeitsmarkt und stärkerer Willkommenskultur. Unionsbürger*innen sind weiterhin zahlenmäßig unterrepräsentiert und Fachkräfte aus Drittstatten immer noch zu wenige.
Ein Großteil der Studierenden verlässt nach dem Abschluss Magdeburg, zugewanderte Fachkräfte fühlen sich häufig nicht willkommen, finden wichtige Informationen selten in Englisch, geschweige in den am häufigsten gesprochenen Herkunftssprachen und fühlen sich im Behördendschungel alleingelassen. So die Ergebnisse der Online-Foren.
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Erst vor wenigen Tagen hat sich Wirtschaftsminister Sven Schulze in einem Volksstimme-Interview erneut zu den drängenden Fragen der Personalgewinnung vor dem Hintergrund der INTEL-Ansiedlung geäußert, die nun weltweit intensiviert werden soll. Ein paar Wochen zuvor hatte er das Thema bereits zur Chefsache erklärt.
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Die AGSA nahm die Magdeburger Aktionswochen zum Anlass, um mit den Teilnehmenden die Frage zu diskutieren:
Wie attraktiv sind wir für die Zuwanderung von Fachkräften?
Der Frage nach einer zukunftsfähigen Fachkräftegewinnung und -sicherung für Magdeburg gingen auf Einladung des Projekt-Teams „Demokratie in Arbeit und Ausbildung“ (DiAA) Expertinnen und Experten nach, die an unterschiedlichen Stellen daran arbeiten, dass Magdeburg für zuwandernde aber auch bereits hier lebende Fachkräfte noch attraktiver wird.
International House bietet Welcome-Service und Kooperation mit der Uni
Frau Dr. Dorothea Trebesius im Bereich der Oberbürgermeisterin für Bildung und Wissenschaft ist für den Aufbau des International House in Magdeburg zuständig. Ganz klar gehe es „um das Ankommen und um das Hierbleiben“, dafür soll das gegenüber dem Katharinenturm entstehende Haus „Unterstützung von Anfang an leisten“ und das „Willkommen organisieren und gestalten“. Frühestens Ende 2023 soll es eröffnen, unter einem Dach befinden sich dann das Bürgerbüro Mitte, ein Teil der Ausländerbehörde und der Welcome-Service in Kooperation mit der IHK, der HWK und der Uni Magdeburg. Teilnehmende merken an, dass die Zivilgesellschaft stärker bei der Idee des International House mitgedacht werden müsse, da Menschen nicht nur als Arbeitskräfte und Studierende hierherkommen, sondern auch als Personen, die soziale Kontakte, Begegnung und Austausch suchten.
Stadt muss unabhängig von INTEL aktiver werden
DiAA-Projektleiterin Dr. Katja Michalak merkte an, dass sie in der INTEL-Ansiedlung einen guten Anlass sieht, um über das Thema Standortattraktivität nachzudenken und diese auszubauen. Aber eigentlich sei es generell wichtig, sich um die Attraktivität der Stadt für das Anwerben und Halten von Zuwanderern Gedanken zu machen. Da sieht sie noch Defizite und fragt sich u.a., warum die Stadt als Arbeitgeberin nicht positive Signale an ihre Beschäftigten und darüber hinaus an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt aussendet, indem sie bspw. der Empfehlung des Integrationsbeirates der Stadt Magdeburg folgt und der Carta der Vielfalt beitritt.
Spürbare Zunahme der Zuwanderung seit 10 Jahren – jede 6. Magdeburger hat einen Migrationshintergrund
Der Integrationsbeauftragte der LH Magdeburg Krzysztof Blau wünscht sich von der Stadtverwaltung, dass der dynamische Prozess der Zuwanderung (innerhalb von 10 Jahren haben sich die Zahlen nahezu vervierfacht, fast 40 000 Magdeburgerinnen und Magdeburger haben einen Migrationshintergrund) stärker wahrgenommen wird. Wichtig sei, dass die Magdeburger Migrantinnen und Migranten als heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Bedarfen wahrgenommen werden.
Wir brauchen neben Symbolpolitik auch spürbare Veränderungen in den städtischen Strukturen sowie Integrations- und Sprachkurse für alle Zuwanderer, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Die Magdeburger mit Zuwanderungsgeschichte sollten über ihre kommunale Vertretung, den Integrationsbeirat, stärker gehört werden. Dieser ist als Brückenbauer und Partner stärker in die Stadtentwicklung einzubinden.
Die Unsichtbaren – Unionsbürgerinnen und Unionsbürger im Rahmen der Freizügigkeit
Eine sehr starke Zuwanderungsgruppe sind die Unionsbürger in Sachsen-Anhalt. Rund 7000 Personen in Magdeburg und 42.000 in Sachsen-Anhalt macht diese Gruppe aus und damit ein Drittel aller Ausländerinnen und Ausländer in unserem Bundesland.
Sie kamen in einem weiteren öffentlichen Online-Austausch im Rahmen der Aktionswochen EINE STADT FÜR ALLE auf Einladung der Servicestelle EU-Migration Sachsen-Anhalt (EUmigra) zu Wort.
„Uns fehlen die Zugänge zu Sprachkursen, wir vermissen immer wieder Willkommenskultur in Behörden und Ämtern und nötige Informationen erhalten wir so gut wie nie in unserer Muttersprache. Da ist es nicht verwunderlich, dass viele unserer europäischen Landsleute ihre Rechte gar nicht kennen.“
So wie Mimi Rupprecht, die seit 25 Jahren in Sachsen-Anhalt lebt und sich ehrenamtlich einsetzt für ihre bulgarische Community, geht es vielen EU-Angehörigen – in Deutschland und in Sachsen-Anhalt. Janos Raduly etwa, Vorsitzender des Vereins „Ungarn mitten in Sachsen-Anhalt“, beklagt den fehlenden Rechtsanspruch auf Integrationskurse. Und ist doch mal ein Platz frei, auf den der EU-Arbeitnehmer nachrücken kann, findet der Kurs meist nicht nach Feierabend oder am Wochenende statt.
Strukturelle Diskriminierung hemmt Motivation, hier zu bleiben
Dem pflichten auch die beiden Studierenden an der Otto-von-Guericke-Universität José Ignacio Simo de Noriega und Frederico Campatelli bei. „Menschen, die den Mindestlohn oder etwas mehr verdienen, können sich die Kosten für einen Sprachkurs nicht leisten, und das ist bei der Mehrheit der europäischen Migranten der Fall. Das Erlernen der deutschen Sprache ist aber von grundlegender Bedeutung, und wenn es keine geeigneten Möglichkeiten gibt, fühlen sich die Menschen ausgeschlossen, und es wird unwahrscheinlich, dass sie für einen längeren Zeitraum bleiben.“
Der auch an dieser Diskussion beteiligte Integrationsbeauftragte der Landeshauptstadt Krzysztof Blau brachte es im Fazit auf den Punkt: „Das ist strukturelle Diskriminierung, die wir in der Bundesrepublik leider immer noch zulassen. Und wenn wir strukturelle Diskriminierung haben, brauchen wir ein strukturelles, generelles Umdenken.“
Zusammengefasstes Fazit aus den Beiträgen beider Veranstaltungen:
- Die Stadt sollte einen stärkeren Fokus auf das dynamische Zuwanderungsgeschehen legen
- Trotz der Zunahme der Zuwanderung, bleiben zu wenige Menschen hier: Die nach Königsteiner Schlüssel zugewiesenen Flüchtlinge entschieden sich nach dem abgeschlossen Asylverfahren immer noch viel zu häufig für andere Bundesländer mit attraktiverem Arbeitsmarkt und stärkerer Willkommenskultur. Unionsbürger*innen sind weiterhin zahlenmäßig unterrepräsentiert und Fachkräfte aus Drittstatten immer noch zu wenige.
- Die weltweite Suche nach Fachkräften wird nur funktionieren, wenn Magdeburg als weltoffene, lebens- und liebenswerte Stadt von den zuwanderten Communities angesehen wird und diese in ihren weltweit zugänglichen Sozialen Netzwerken darüber berichten.
- Wir brauchen neben Symbolpolitik auch spürbarer Veränderungen in den städtischen Strukturen sowie Integrations- und Sprachkurse für alle Zuwanderer, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.
- Die Magdeburger mit Zuwanderungsgeschichte sollten über ihre kommunale Vertretung, den Integrationsbeirat, stärker gehört werden. Dieser ist als Brückenbauer und Partner stärker in die Stadtentwicklung einzubinden.
- Die Entstehung eines International House ist sehr zu begrüßen, sollte aber noch stärker die Kooperation mit Strukturen der Zivilgesellschaft suchen.
- Die Stadt sollte selbst offensiver werden und sich zur Förderung von Vielfalt als Arbeitgeberin bekennen. Der Beitritt zur Carta der Vielfalt wäre ein wichtiger Schritt.
- Je weniger Magdeburg eine Stadt für alle ist, desto unattraktiver ist sie für Fachkräftezuwanderung, für das Bleiben, für das „Heimkehren“ und auch für diejenigen, die hier schon länger oder bereits immer leben. Wir sind auf einem guten Weg, aber es liegt noch einiges an Wegstrecke vor uns.
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Ergebnisse aus den Online-Foren im Rahmen der Aktionswochen EINE STADT FÜR ALLE:
23.01.2023 "Wie eine zukunftsfähige Fachkräftegewinnung gelingt", Veranstalter: AGSA, Projekt „Demokratie in Arbeit und Ausbildung“ (DiAA)
25.01.2023 „Europa ist in Magdeburg. Perspektiven auf EU-Zuwanderung in Magdeburg und Sachsen-Anhalt“, Veranstalter: AGSA, Servicestelle EU-Migration Sachsen-Anhalt (EUmigra)
Hintergrund:
An den inzwischen 5. Magdeburger Aktionswochen EINE STADT FÜR ALLE beteiligte sich auch die Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt e.V. (AGSA). Die Trägerin des einewelt haus ist ein interkultureller Dachverband, der sich mit seinen 48 Mitgliedsorganisationen für ein gutes, gleichberechtigtes Zusammenleben in Sachsen-Anhalt, für das Engagement in internationalen Vereinen und grenzübergreifenden Partnerschaften starkmacht. Projekte der AGSA, wie „Demokratie in Arbeit und Ausbildung“ oder die Servicestelle EU-Migration Sachsen-Anhalt (EUmigra) begleiten Prozesse interkultureller Öffnung in Ämtern, Behörden, Beratungsstellen und Unternehmen, die einen zentralen Faktor für die Attraktivität unserer Landeshauptstadt und unseres Bundeslandes darstellt.